Für Benjamin Zander, Direktor des Boston Philharmonic Orchestras, der davon überzeugt ist, dass klassische Musik mächtig genug ist, die menschliche Wahrnehmung der Welt zu verändern, nimmt die Arbeitsweise eines Orchesters vieles von dem vorweg, was in der Wirtschaft in Sachen Führungskultur erst noch geschehen muss.1 Interessant ist, dass das Orchester schon seit Jahrzehnten in Organisationen als Metapher verwendet wird, um die perfekte Ausrichtung der Mitarbeiter auf die Ziele des Managements zu illustrieren – offensichtlich in vollkommener Unkenntnis des tatsächlichen Zusammenspiels in einem Orchester. Verwendet man die Metapher aber im Sinne der Prinzipien einer Symphonie, in der das Werk und das Wir jederzeit über dem Ich stehen, kann sie sehr kraftvoll sein.
Führung, die ein gemeinsames Werk entstehen lassen will, muss einen Beitrag dazu leisten. Dieser Beitrag besteht in kreativen Prozessen oft darin, sehr gut vorbereitet zu sein, weil, wie Louis Pasteur es schon sagte, der Zufall nur den vorbereiteten Geist begünstigt und die glückliche Fügung sich nur auf dem Boden harter Arbeit zeigt. Opernregisseur und Intendant Ingolf Huhn beschreibt diesen Beitrag so: „Zunächst einmal lese ich das Stück sehr intensiv. Ein bisschen mache ich am Klavier. Heutzutage gibt es von fast allem auch Aufnahmen. Also hören, hören, hören, die Partitur in der Hand. Ich versuche, den musikalischen Strukturen des Werks auf die Spur zu kommen und daraus die Inhalte abzuleiten. (…) Insgesamt lese und höre ich viel rund um das Stück, auch Geschichtliches.“2 Ganz ähnlich spricht auch der Dirigent Lubnan Baalbaki über seine Arbeit: „Lange vor der ersten Probe gibt es viele Phasen, um ein Stück, eine Symphonie vorzubereiten. Das beginnt, wenn man sich die Partitur zum ersten Mal ansieht und ihre Struktur und Melodie erforscht, versucht zu interpretieren, ob sie grammatikalisch, lyrisch oder tragisch ist. Wie sieht man diese Musik? Alles ist sehr interpretierbar. Sogar Dur kann manchmal dramatisch sein. Manchmal ist es eine Molltonart, die man auf positivere Weise nutzen kann. Die Botschaft ist nicht immer eindeutig. Diese ganze Vorbereitung ist notwendig, um den mystischen Charakter einzufangen. Dann geht es darum, direkt an der Partitur selbst zu arbeiten und die wahre Struktur zu entdecken: Wie begann der Komponist die ersten Noten zu schreiben, die ersten Akkorde und wie war seine Vorstellung von der musikalischen Struktur? Was ist der Unterschied zwischen dieser Symphonie und anderen Arbeiten? Was sind Gemeinsamkeiten, was sind die Einflüsse? Ich muss über einen Komponisten, den ich dirigiere, erst einmal etwas lesen. Wenn ich zum Beispiel Beethoven dirigiere, egal welche Symphonie, dann lese ich über sein Leben und seine Zeit. Viele Komponisten schrieben Briefe, während sie an ihrer Symphonie arbeiteten, wie auch Beethoven, Mozart, Schumann oder Mendelssohn. So etwas zu lesen, ist sehr wertvoll, weil es über den Geisteszustand des Komponisten Auskunft gibt, und über die Zeit, in der er lebte. Dies haucht der Partitur oder der musikalischen Idee mehr Leben ein. Wir können die Musik nicht vom Geisteszustand des Komponisten trennen, als er sie schrieb. Eine solche Vorbereitung findet schon lange vor dem ersten Tag mit dem Orchester statt. Man trägt schon so viel in den ersten Tag der Probe mit hinein.”3 Für Baalbaki geht es bei dieser Form intensiver Vorbereitung darum, den gesamten Gestaltungsprozess zu durchleben, bevor er stattfindet. Im Vergleich dazu fällt in anderen Disziplinen die Vorbereitung auf Führungsebene deutlich schmaler aus. Dort wird die intensive Vorbereitung häufig an andere delegiert, zum Beispiel zur Stabsaufgabe gemacht, und dann allenfalls als Management Summary in komprimierter Form aufgenommen. Darüber hinaus konzentrieren sich diese Zusammenfassungen auf quantitative Aussagen. Von der qualitativen und unmittelbaren Auseinandersetzung, wie wir sie bei Baalbaki und Huhn sehen, ist man hier weit entfernt.
Vorbereitung muss mit Verständnis einhergehen, Verständnis aber sollte man nie mit Gewissheit verwechseln. Denn ein Thema durchdrungen zu haben, bedeutet noch lange nicht, zu wissen, wie man es am besten behandeln sollte. So wie man nicht wissen kann, wie das Ergebnis aussehen wird, wenn man, wie es in kreativen Prozessen üblich ist, etwas zum ersten Mal tut. Bewegt man sich im Unbekannten, macht es also gar keinen Sinn, dass einer, so genial er auch veranlagt sein mag, den anderen ein zu erreichendes Ergebnis und den Weg dahin vorgibt. Und das gilt auch für Baalbaki, der seine Vorbereitung nutzt, um eine Vorstellung des Stücks oder auch ein Bekenntnis zum Stück zu entwickeln. Wenn aber die Arbeit mit dem Orchester gelingt, wird seine Vorstellung vom tatsächlichen Ergebnis übertroffen. „Ich glaube, dass es eine einzig wahre Version dessen gibt, was ein Orchester gemeinsam mit einem Dirigenten aus einem Stück machen kann. Wenn man die ganze Woche an der gleichen Symphonie arbeitet, gibt es letztendlich eine wahre Version, die es sein wird und die ich für das Konzert aufbewahren möchte. Deshalb arbeite ich bei Proben immer sehr praktisch und pragmatisch. Auf dem Konzert lasse ich sie und mich, der Musik von unseren unterschiedlichen Standpunkten aus dienen.” Besser lässt sich ein moderner Führungsansatz, dann auch gern wieder am Beispiel eines Orchesters, nicht beschreiben.
Für die Vorbereitung eines Stückes sind viele Schritte erforderlich. Der wichtigste für Baalbaki ist, wenn Orchester und Dirigent aufeinandertreffen. Wenn das zum ersten Mal geschieht, findet die umfassende Vorbereitung des Dirigenten meist keine Entsprechung auf Seiten der Musiker, weil diese mit großer Wahrscheinlichkeit kürzlich noch andere Stücke unter anderen Dirigenten gespielt haben. Darüber hinaus unterscheiden sich Orchester voneinander und setzen sich, jedes für sich genommen aus sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten zusammen. Baalbaki weiß aus seiner Zusammenarbeit mit Kurt Masur, wie wichtig es ist, in einem solchen Gebilde, eine gemeinsame Gemütsverfassung zu entwickeln und zwar durch spirituelle und praktische Arbeit: „Der praktische Teil bezieht sich auf das Lesen der Noten, das Kennenlernen der schwierigen Stellen, die Fingerzeige des Komponisten usw. Der spirituelle Teil besteht darin, der Musik Farbe zu verleihen, die sie spielen, sie dazu zu animieren, an die Vision zu glauben, auch wenn man sie nicht unbedingt dazu bringen kann, die gleiche Gemütsverfassung zu haben, wie die, die man selbst hat oder die der Komponist bei seiner Arbeit hatte.“ Die Gleichzeitigkeit von Spiritualität und Pragmatismus ist für Baalbaki ein großes Geheimnis, dass er nicht erklären kann. Aber er weiß, dass sie wichtig ist, „um auf die andere Seite zu gelangen.“4
Auch für den Regisseur und Autor Benjamin Quabeck ist dieses Zusammenspiel entscheidend. Es ist „wichtig, eine Vertrauensbasis aufzubauen, sodass die anderen merken, dass hier nicht jemand sitzt, der bloß zufällig in die Position gekommen ist, sondern weiß was er tut. Dazu ist es wichtig, präzise zu arbeiten, auf das Team einzugehen und ihre Arbeit anzuerkennen.“ Gleichzeitig geht es aber auch um Professionalität, die sich zum Beispiel darin zeigt, dass er sehr genau und konzentriert arbeitet. „Nach dem Dreh kann ich sehr genau benennen, was mir gefiel und was nicht. Ich kann auch mal lauter werden, wenn ich merke, dass die Dinge wegen fehlender Konzentration oder schlampiger Arbeit nicht laufen.“5 Orchestrieren bedeutet eben auch, die Zusammenarbeit auf ein Ergebnis, mag es auch unbekannt sein, hin zu organisieren. Dass es dabei durchaus ruppig zugehen kann, dafür gibt es Belege genug. Von Leonard Bernsteins Proben zur West Side Story zum Beispiel existiert eine Filmaufnahme, die ihn zusammen mit seinem Tenor Jose Carreras und anderen Musikern in einem Moment zeigt, in dem nichts zu gelingen scheint. Als sich dann auch noch herausstellt, dass nicht alle Musiker mit der aktuellen Partitur arbeiten, wird Bernstein, den man in der Öffentlichkeit ganz anders kannte, ungemütlich. Frust, Enttäuschung und Unsicherheit stehen einigen Mitgliedern des Ensembles in diesem Augenblick förmlich ins Gesicht geschrieben. Wenn Menschen wirklich gemeinsam gestalten, arbeiten sie hart. Es wird gelitten, geflucht, mit sich und den anderen gerungen, gekämpft und mehr. Erstaunlich aber ist: Ganz gleich wie unangenehm es wird, die gemeinsame Arbeit scheint niemals unbefriedigend zu sein. Der Grund hierfür könnte zum einen darin liegen, dass jeder an etwas arbeitet, das größer ist als man selbst, und zum anderen, dass man den eigenen Anspruch jederzeit überprüfen und das Ergebnis seiner Arbeit und seiner persönlichen Weiterentwicklung unmittelbar erleben kann.
Wenn man so viel über moderne Führung allein aus der Zusammenarbeit eines Ensembles lernen kann, fragt man sich, warum es solche Beispiele in anderen Disziplinen nicht weiter bringen konnten, als bis zur übermäßig strapazierten und obendrein noch falsch verstandenen Orchestermetapher. Ein Grund könnte darin liegen, dass es gerade die Beispiele zu weitaus größerer Bekanntheit bringen, in denen Regisseure, Dirigenten, aber auch andere herausgehobene Mitglieder eines Ensembles, Diven oder die zur Floskel gewordenen ersten Geigen, sich durch ihr egomanes Verhalten ins öffentliche Bewusstsein drängen. Benjamin Quabeck zum Beispiel weiß, dass es Regisseure gibt, „die erst mal zeigen müssen, dass sie sich für die wichtigsten Menschen am Set halten.“ Und Ingolf Huhn kann das bestätigen: „Es gibt mittlerweile eine aussterbende Schule von Regisseuren, die viel Freude daran haben, sich als Tyrannen zu gebärden, die Leute zu beschimpfen. Es gibt eine relativ bekannte Opernregisseurin, die nicht ruht und rastet, bis mindestens alle Frauen einmal weinend von der Bühne gegangen sind.“ Obgleich es sie gegeben hat und noch immer gibt, sind sie nicht repräsentativ. Der Mehrheit gelingt es, einen vertrauensvollen Rahmen zu schaffen, in dem erfolgreich im Sinne des großen Ganzen zwischen Professionalität und individueller Freiheit vermittelt wird.
Offene Kommunikation, Durchlässigkeit, kooperative Zusammenarbeit, Autonomie, Raum für Experimente – in den kreativen Disziplinen ist seit jeher zu Hause, was man mehr und mehr in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung als Anforderungen an moderne Organisationen und ihr Führungsverständnis erkennt und formuliert. Eine wichtige Erkenntnis in diesem Zusammenhang haben wir bereits vorgestellt: Führung ist nicht an eine Position gebunden, sie manifestiert sich an vielen Stellen innerhalb eines Teams oder einer Organisation. Das einer bestehenden Führungsmannschaft beizubringen, ihr beizubringen, loslassen zu können, ist eine der größeren Herausforderungen, denen Organisationen heute und in Zukunft gegenüber stehen. Hilfreich kann auch hier das Experiment sein, zum Beispiel wenn es darum geht, wie Führungsaufgaben vergeben werden.
Die Berliner Philharmoniker (und es gibt Unternehmen wie zum Beispiel Gore, die das ähnlich handhaben) wählen ihre Führungskraft. Die 124 Mitglieder des Orchesters treffen sich dafür an einem geheimen Ort. Smartphones sind hier nicht zugelassen. Niemand kann gehen oder kommen, bis die Wahl abgeschlossen ist. Prinzipiell kommt jeder Dirigent als Kandidat in Frage. In mehreren Runden, bis ein Konsens erreicht ist, wird dann festgelegt, wer das Orchester dirigieren soll.6 Als 2015 die Wahl des Nachfolgers von Sir Simon Rattle schließlich auf Kirill Petrenko fiel, antwortete dieser (und in seiner Antwort scheint sein Führungsverständnis durch) wie folgt: „Man kann es gar nicht in Worte fassen, was in mir gefühlsmäßig vorgeht: Von Euphorie und großer Freude bis zu Ehrfurcht und Zweifel ist da alles drin. Ich werde meine ganze Kraft mobilisieren, diesem außergewöhnlichen Orchester ein würdiger Leiter zu sein, und bin mir auch der Verantwortung und der hohen Erwartungen bewusst.”7 Seinem Vorgänger Rattle war diese Demut nicht fremd: „Dirigenten machen zu viel Theater um Dirigenten! Demut und harte Arbeit sind Tugenden. Wir sind nichts ohne unsere Musiker.”8
Der Verhaltensforscher Chengwei Liu von der University of Warwick geht noch einen Schritt weiter und empfiehlt Unternehmen, ihre Führungskräfte zumindest teilweise auszulosen: „Im antiken Griechenland wählten Städte ihre Anführer per Losentscheid, ebenso die Republik Venedig. Vieles weist darauf hin, dass dies auch für Unternehmen sinnvoll wäre. Studien haben gezeigt, dass Zufallsmechanismen in der Politik und auf den Finanzmärkten bessere Ergebnisse erzielen. Ein derartiges Vorgehen wird auch als fairer wahrgenommen, es kann Korruption verhindern und zu mehr Stabilität führen.”9 Lius Gedanke mag auf den ersten Blick abwegig klingen. Doch wenn man Führung nicht mehr mit einer Position gleichsetzen will, kann selbst ein solcher Weg funktionieren.
Wenn man Führung, wie es im Künstlerischen der Fall ist, als Fähigkeit, vor allem aber als Funktion versteht, kann man diese nicht nur auf den vergleichsweise kleinen Kreis eines Managementteams beschränken wollen. Weil in jedem, der sein Leben als Erkenntnisprozess versteht, unterschiedliche Kompetenzen auf ganz individuelle Art zusammenkommen, sollte man in der gesamten Organisation vielmehr darum bemüht sein, jeden Einzelnen Führung mit der für ihn passenden Ausprägung übernehmen zu lassen, um so einer Kreativitätskultur den Weg zu ebnen. Das verändert dann auch die offizielle Rolle einer Führungskraft. Sie ist vor allem dafür zuständig, Potenzialen zur Entfaltung zu verhelfen, die Ambivalenz eines ergebnisoffenen Strebens nach herausragenden Ergebnissen aufzuheben und Widersprüche so erträglich und einträglich zugleich zu machen.
1. Zander, Benjamin. The transformative power of classical music. 2008. Hier online verfügbar, zuletzt geprüft am 28.12.2017. ↥
2. Age of Artists. Interview mit Ingolf Huhn. 19.08.2014. ↥
3. Age of Artists. Interview mit Lubnan Baalbaki. 28.8.2015. ↥
4. Age of Artists. Interview mit Lubnan Baalbaki. 28.8.2015. ↥
5. Age of Artists. Interview mit Benjamin Quabeck. 6. November 2014. ↥
6. Hall, Allan (10.05.2015). Berlin Philharmonic musicians vote in secret on Simon Rattle’s replacement. The Independent. Hier online verfügbar, zuletzt geprüft am 10.07.2017. ↥
7. Kirill Petrenko wird neuer Chefdirigent der Philharmoniker (23.06.2015). rbb|24. Hier online verfügbar, zuletzt geprüft am 10.07.2017. ↥
8. Maddocks, Fiona (31.08.2014). Simon Rattle: ‘Learning music is a birthright. And you have to start young’. The Guardian. Hier online verfügbar, zuletzt geprüft am 10.07.2017. ↥
9. Höhmann, Ingmar (30.06.2016). Losen Sie Ihren nächsten CEO aus. Harvard Business Manager. Hier online verfügbar, zuletzt geprüft am 10.07.2017. ↥